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Johannes Schreiter gilt unstreitig als einer der bedeutendsten und eigenwilligsten Glasmaler der Gegenwart. Seine Arbeiten sind weltweit im Gespräch und haben dem Metier und der jüngeren Künstlergeneration in der Bundesrepublik, vor allem aber in England, den USA, Japan, Kanada, Neuseeland und Australien stilbildende Impulse gegeben. Dass Schreiter heute zu den wichtigsten Repräsentanten dieser Kunst gilt, ist sicher auch auf den Umstand zurückzuführen, dass sich sein Schaffen nicht im Umgang mit Glas erschöpft, sondern ein enges Netzwerk zwischen den verschiedenen Werkgruppen knüpft, die Glasmalerei, die Radierung, die Zeichnung, die Malerei und die Collage in einen umfassenden Kontext stellt. Schreiters radikale Konsequenz, die geistige und künstlerische, akzeptiert nur einen verantwortbaren Ausgangspunkt: den Inhalt, die Aussage - unabhängig zunächst vom Werkstoff. "Schnelle Brüter" (damit sind die Künstler gemeint) sind ihm suspekt; Verantwortung, Vorsicht und Liebe mahnen ihn zu behutsamen Tun, das sich gerade aus dieser Haltung heraus unzulässigen Einflussnahmen widersetzt. Solches Selbstbewusstsein braucht Offenheit, wie auch Einsichts- und Entwicklungsfähigkeit, um dauerhaft vor allem im Ausland tragfähig zu sein, um der Kunst das Wachstum zu sichern.
Schreiters frühe Glasarbeiten stehen in einem beinahe antithetischen Spannungsverhältnis zur Architektur, sind noch ganz dem Informel verpflichtet und somit grundverschieden vom Vokabular der sie umschließenden Architektur, sagt Hans Gercke und zeigt sich beeindruckt von der Balance des Bildganzen, das durch seine Einheitlichkeit die "Rückbindung" an die Architektur schafft. Das Fenster verweist auf Jenseitiges, ist Ausblick. Die von Schreiter erfundene Brandcollage, die in jene Zeit datiert, steht damit in enger Verbindung. Die Affinität zu den Durchbrüchen mittels Einsatz des Feuers, zur Collage mit All-over-Struktur, weicht zusehends einer tektonischen Bildauffassung, die die Ein- und Ausbrüche, die Verletzungen, die Zusetzungen des Feuers noch eindringlicher wirken lässt. So gelangt er zu der für ihn typischen Bilddialektik, die den Gegensatz von konstruktiv und organisch neu definiert. Geometrische Strukturen, strukturierte Plansysteme und kleine, serielle Elemente, "Spuren des Lebendigen" (Hans Gercke) treten mit den sich scheinbar spontan entwickelnden Linien, mit den Zerstörungen und Brüchen in Kontrast. Zugleich fällt eine Reduzierung der Farbigkeit, der streng musivischen Charakter der Arbeiten auf, die das Licht in den Zustand eines Zur-Ruhe-gekommen-Seins weisen. Schreiter: "Ich liebe Glasmembrane, in denen das Licht sozusagen ans Ziel gelangt ist, in denen es sich aufhält und niederlässt. Das erreiche ich durch die Verwendung von opaken Glasarten, die den undurchsichtigen mittelalterlichen Gläsern sehr verwandt sind. Jedenfalls vermeide ich tunlichst, dass meine Glasbilder Zerrbildprojektionen hinterlassen."
Die Lichtsteuerung, die in der klassischen Glasmalerei die Aufgabe des lasierenden, schattierend oder deckend aufgetragenen Schwarzlots ist, überträgt Schreiter auf das Glas selbst, konstatiert Suzanne Beeh-Lustenberger. Auch die Bleirute, früher eher eine technische Notwendigkeit, befreit sich in seinem Werk und wird mit Sinngehalt angereichert, sie wird zu einem "Element freier, seismografischer Zeichnung", wird selbst zum dominierenden Motiv. Darin ist mit Gewissheit eine der wichtigsten Leistungen von Johannes Schreiter auf dem Gebiet der Glasmalerei zu sehen, zumal sie mit der Einbeziehung von Plexiglas in die Gestaltung notwendigerweise einherging und so ermöglichte, dem Antikglas "einen Fond von absoluter Stille und Neutralität" zu unterlegen; die "Intensität des leeren Grundes" bekam entscheidende Bedeutung.
Schreiter löst sich damit von der Suggestion des Ausblicks, versteht jedes Fenster nunmehr als autonome Einheit eines einheitlichen Gestaltungskonzeptes. Die antithetische Bezugnahme auf die Architektur weicht der dialogisierenden Auseinandersetzung mit ihr, wirft das Integrationsproblem auf. Schreiter wäre nicht Schreiter, hätte er keine eigensinnige Antwort auf diese Frage, in dem er die Integration schlüssig in ihr Gegenteil verkehrt: "Das Bild wird nämlich nicht mehr vom gebauten Umraum als ihm vorsätzlich Anverwandelten absorbiert, sondern verhält sich in jedem Detail so, dass es keineswegs mehr als Derivat oder Apendix ausgesprochen architekturaler Verhaltensweisen verstanden werden kann. Angesichts der explosiv fließenden Bewegungen des Bildgeschehens wird das spezifisch Tektonische, das was eben die Architektur ausmacht, verdeutlicht: ihr Stehen und Tragen." Schreiter hat diese Art der Fensterkonzeption die komplementäre Integration genannt. Gercke meint, auf die Fenster von Douai bezogen, dass hier Wand und Fenster eine Ganzheit bilden, ein Kontinuum aus Farbe und Licht, in dem Materie und Entmaterialisierung sich gleichsam in einem Schwebezustand befinden. Der Kontrast findet sich in den Bildern selbst.
Auffallend, schreibt Gercke weiter, sei der abbildende Charakter der Fenstermotive, die (scheinbare) Konkretheit der aus abstraktem Formenspiel entwickelten Bildelemente. Dies führe schließlich zu Gestaltungen, die sich neuerlich der Collage annähern. Texte, Buchstaben, Gitter, Netze, Bänder, Tücher, Fingerabdrücke, Blutspuren, Schnüre oder Knoten entreißt er ihren geläufigen Bindungen und fügt sie in sensible, sinnstiftende Zusammenhänge, lässt sie angehen gegen allzu "puristische Bildauffassungen", lässt sie Aufrührer von Notwendigem sein. In den Heidelberger Fenstern für die Heiliggeistkirche, "so etwas wie die Summe des Schreiterschen Gesamtwerkes" (Gercke), tritt dies "die Fakesimulierung von Realitäts-Fragmenten" vehement zutage und verbindet ich mit dem geschriebenen Wort. Der Bogen zu seinen Papierarbeiten, zu den Zeichnungen und deren Symbiose mit der Schrift schließt sich, lässt die Frage nach der "Materialgerechtigkeit" zweitrangig werden. Nicht Glas, Licht ist das Material seiner Schöpfungen; dies macht die durchleuchteten "Dokumente der göttlichen Offenbarung" erst lesbar und transparent. Dabei bleibt der Künstler bescheiden und sich der Grenzen seiner Möglichkeiten bewusst, wenn er sagt: "Ich möchte nicht verheimlichen, dass sich natürlich nicht jeder Gedanke in ergiebige Bildgesten transformieren lässt. Wenn nicht, enthält er gewöhnlich zu viel intelligible Informationen. Um nicht die Lauterkeit von Farbe und Form zu malträtieren, greife ich kurzerhand zur Schrift, zumal sie ja bereits visualisierter Gedanke ist."
Er braucht diese Durchbrechungen der Abstrakten Malerei, die ihm grundsätzlich am tragfähigsten erscheint, braucht diese "lebensrettende Auflehnung gegen Prinzipien", die "Seitensprünge in die Gegenstandswelt", um der Wirklichkeit, hinter der sinnlich wahrnehmbaren, auf die Schliche zu kommen. Er bleibt klein und menschlich, vom Glauben geleiteter Forscher im Dienste der Wahrheit, der sich dem quälenden Grundwiderspruch im Menschen zwischen Geist und Seele, Verstand und Gefühl, zwischen Rationalität/Irrationalität, Ordnung/Chaos, Zwang/Freiheit, Objektivität/Subjektivität stellt, der daraus wahrhaftige Fragen entwickelt, sich aber nicht anmaßt, die Rätsel endgültig zu lösen. Daraus schöpfen seine Werke ihre Aktualität. Er verweigert sich allen Huldigungen an die Geschwindigkeit, verweigert sich leichtfertigen Antworten auf Quizfragen, verweigert sich zeitgeistigen Wettläufen, schwimmt gegen den Strom und richtet sein Augenmerk auf die Beschaffenheit, auf Wesentliches. Schreiter produziert keinen Sinn, seine Kunst stiftet Sinn, seine Bilder "sollen und können den Glauben sowie seine Inhalte nicht definieren; es kann höchstens ihre Aufgabe sein, beim Betrachter diese Inhalte wirklicher, vielleicht sogar notwendiger zu machen."
Joachim Kolbe, 1995
Rede zum 10-jährigen Jubiläum Glas/Werke/Langen 2019 von Gunther Sehring
Gotteswort und die Welt des Menschen
Laudatio zum 80. Geburtstag 2010 von Dr. Brülls Laudatio zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde von Bürgermeister Frieder Gebhardt
Johannes Schreiter im Spiegel kulturkritischer Betrachtung
Johannes Schreiter, Jahrgang 1930, überraschte die Kulturwelt zunächst mit dem von ihm erfundenen Bildtyp der Brandcollage. „Mit seinen Brand- oder Fumage-Collagen (1959-1989) hat Johannes Schreiter, neben Otto Piene und Yves Klein, Kunstgeschichte geschrieben.“ (Gunther Sehring)
Etwa zur gleichen Zeit, d. h. um 1959/60, entstanden seine ersten viel beachteten Glasfenster in Bürgstadt und Kitzingen, die innerhalb dieser Kunstgattung völlig ungewohnte Maßstäbe setzten und als ästhetische wie inhaltliche Herausforderungen verstanden wurden. - Die großartigen monochromen Glaswände in der Kapelle des Johannesbundes Leutesdorf/Rhein von 1965 sind in diesem Sinne ein weiterer Meilenstein im Œuvre des Künstlers. „Von diesem Geist der Forderung, auch an sich selbst, ist das Werk Schreiters geprägt, der nicht nur durch seine Brandcollagen berühmt wurde, sondern auch neben Meistermann zu den wichtigsten und substantiellsten Glasmalern unserer Tage gehört. Mit seinen Entwürfen für die Neugestaltung der Fenster in Langhaus und Chor der Heidelberger Heiliggeistkirche, an denen er seit 1977 arbeitet … hat er die Summe seiner künstlerischen Erfahrung, seiner spirituellen Erkenntnis und seines Glaubensverständnisses gezogen. Es handelt sich bei diesen vorbildlosen und insofern »unvergleichlichen« Arbeiten um eine neue und riskante Erprobung des Sakralen, wie der verstorbene Mainzer Kunsthistoriker Friedhelm Fischer bereits 1981 mit Bezug auf die Fenster der Sakramentskapelle im Limburger Dom formuliert hat.“ (Karl Ruhrberg).
Namhafte Kunstexperten aus aller Welt haben sich zu diesem genialen Zyklus Schreiters ausführlich geäußert. Einer von ihnen, Holger Brülls, schreibt in „das Münster“ 3/2000: „Mit dem Entwurf eines monumentalen, 22 Einzelbilder umfassenden Fensterzyklus für die spätgotische Heiliggeistkirche in Heidelberg schuf … Johannes Schreiter zwischen 1977 und 1987 ein Werk, das, obschon nie ausgeführt und mittlerweile endgültig zu Fall gebracht, in der Geschichte des modernen Glasbildes eine Schlüssel- und Spitzenstellung beanspruchen darf. Schreiter, der als der bedeutendste lebende Glasmaler der jüngeren Gegenwart zu gelten hat und als solcher weltweit schulebildend wirkte und wirkt, widersetzte sich mit seinem Konzept durchaus nicht der traditionellen Funktionszuweisung »Kirchenfenster als Medium der Heilsbotschaft«. … Schreiters Heidelberger Fensterzyklus hat sich in Gestalt einiger realisierter Entwürfe ins Museum gerettet. Der vielleicht bedeutendste Monumentalzyklus der nachmittelalterlichen Glasmalerei, dessen Entstehung in Heidelberg verhindert wurde, hat eine bleibende Statt im kunsthistorischen Bewusstsein gefunden und ist dort eine unverrückbare Größe in der Geschichte der Gattung Glasbild.“
Auf die Auswirkungen, die nicht nur die provokativen Heidelberger Fenster im Hinblick auf kirchliche „Notwendigkeiten“ verursachen, äußert sich Friedhelm Mennekes 1986 in einem Vortrag. Er konstatiert: „Schreiter ist für das Verhältnis von Kunst und Kirche ein Lichtblick, da er in einer hochgradig komplexen Weise Moral und Ästhetik, Theologie und Kunstreflexion, Offenbarung und künstlerisches Schaffen miteinander verbindet. … Als Glasmaler von Weltrang ist er ein »Mitverwalter des Lichts«, der weiß und versteht, wie er die elementaren Lichterlebnisse, die jedem Menschen draußen widerfahren, in eine Form bringen kann.“
Und in Bezug auf die häufig festzustellende Ratlosigkeit der Kirchen im Umgang mit avantgardistischer Kultur äußert sich der Münchner Kunsthistoriker Peter Steiner in seinem Augsburger Aschermittwochs-Referat von 2009 folgendermaßen. (Er fokussiert dabei hauptsächlich die bildende Kunst und verweist auf einen möglichen und eben durchaus gangbaren Weg.) Zitat: „Wie könnte eine Umkehr der Kirche zur Hochkultur in der zeitgenössischen Kunst aussehen? Erlauben Sie einem Praktiker der Kunstvermittlung ein paar Vorschläge: Aufträge an Künstler von höchster Qualität, von Weltniveau, wie im 19. Jahrhundert z.B. an Eugène Delacroix, im 21. an Gerhard Richter im Kölner Dom und an Johannes Schreiter im Augsburger Dom sind ein Weg.“
Im Deutschen Kunstverlag erschien 2004 ein Heft zum Thema Denkmalpflege mit einem wegweisenden Artikel von Holger Brülls, in dem außer der Position Schreiters in der Glasmalerei-Landschaft auch auf die Funktion seines zeichnerischen bzw. linearen Inputs hingewiesen wird. Im Gegensatz zu Georg Meistermann ist „bei dem jüngeren Schreiter eine starke Reduzierung des Bleinetzes im Sinne großzügiger Flächenkomposition zu beobachten. Seine frei über die farbigen Flächen geführten Bleiruten, die wie ein Pinsel-, Blei- oder Kohlestrich frei auslaufen, wurden zum Stil prägenden Epochenereignis in der modernen Glasmalerei“. - „Es gibt unter den lebenden Künstlern keinen, der die Vorstellung von moderner Glasmalerei so paradigmatisch verkörpert wie Johannes Schreiter. … Sein unverkennbarer Individualstil, wie er sich abermals in den beiden großen, im Jahre 2007 vollendeten Fenstern für die Sakramentskapelle des Mainzer Domes manifestiert, hat im Laufe der Jahrzehnte einen Bannkreis erzeugt, der es nachfolgenden Künstlergenerationen nicht eben einfach macht, sich von diesem Vorbild zu lösen. Unter den eigenständigen und selbst den besten Vertretern der jüngeren deutschen Glasmalerei ist keiner, der nicht in wesentlichen Elementen seines bildnerischen Repertoires von Schreiters Formerfindungen profitiert hat. Imitiert zu werden ist in der Geschichte der Kunst das Schicksal des Unnachahmlichen, entsprechend groß ist folglich das Heer der Epigonen.“
Abschließend noch ein paar Bemerkungen des bekannten englischen Malers und Glasmalers Brian Clarke: „In my estimation only one artist of our own time fully conquers the great demands of the most architectural of media, stained glass, and fully bridges the two extremes of artistic licence and architectural reticence. He is Johannes Schreiter.“ - Und Bezug nehmend auf das große Fenster im Plenarsaal des Wiesbadener Rathauses schreibt er: „It is a cry in the wilderness, an expression of tenderness and vulnerability unparalleled in my experience of architectural art since Matisse`s chapel at St. Paul de Vence.“
Johannes Schreiter versteht sich als Maler, was auch in seinem architekturbezogenen Werk eindeutig zum Ausdruck kommt. Allein der Tunnelblick der „Einäugigen“ hat ihn leichtfertig auf einen Glas-Maler reduziert, vermutlich, weil er diesbezüglich seit Jahrzehnten international im Gespräch ist.
Übersehen wird auch gerne der große Einfluss, den seine Vortragstätigkeit im In- und Ausland bewirkte. Im Hinblick auf die unlängst bei Schnell & Steiner erschienenen zwei Bände über sein theoretisches Schaffen stellt der Kunsthistoriker Gunther Sehring folgendes fest: „Weniger bekannt ist Schreiters umfangreiches schriftstellerisches und theoretisches Werk, das ihn als einen eigenständigen (Quer-) Denker und Kultur-Kritiker ausweist, als einen »pictor doctus« in bestem Sinne.“ Die Schärfe seiner Diktion springt einen nicht zuletzt aus seinen aphoristischen Notizen an. Zwei Beispiele sollen das belegen: „Kunst, die ganz zu verstehen ist, ist auch ganz zu vergessen.“ - „Das Dilemma der Künste: Wer nur Stil hat, kopiert sich selbst, wer keinen hat, andere.“
Gunther Sehring, Januar 2010