Gegen das Vergessen

Zeitzeugin Edith Erbrich erhält den Kulturpreis der Stadt Langen

(Foto: privat)

Seit 2001 setzt sich die Langener Zeitzeugin des nationalsozialistischen Terrors und Holocaust-Überlebende Edith Erbrich gegen das Vergessen und für Toleranz und Mitmenschlichkeit ein. Mit Mut, Überzeugungskraft und bewundernswerter Ausdauer ist sie stets eine Stimme der Versöhnung, der Vermittlung und Verständigung gewesen. Ihre Lebensgeschichte nimmt heute einen wichtigen Platz in der Erinnerungskultur Langens und Hessens ein. Aus diesem Grund erhält sie jetzt den Kulturpreis der Stadt Langen für das Jahr 2024, der mit 2.500 Euro dotiert ist.

Das hat Bürgermeister Jan Werner als Vorsitzender der Jury, die über die Preisverleihung befindet, mitgeteilt. Dem Gremium gehören Fraktionsvertreter der Stadtverordnetenversammlung und Fachleute aus der Verwaltung an. „Die Jury war der Überzeugung, dass Edith Erbrich eine außergewöhnliche Frau ist, die sich als Opfer und Zeitzeugin des Nazi-Terrors und der Entmenschlichung im Konzentrationslager Theresienstadt gegen das Vergessen stemmt und mit ihrem jahrzehntelangen Einsatz beherzt für die Würde des Menschen, der Freiheit und Demokratie eintritt. Zugleich ist sie eine mahnende Stimme gegen Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung aller Art. Mit ihrer Leidenschaft und ihrem unverbrüchlichen Sinn für Humor und der Notwendigkeit des Lachens hat sie ein Zeichen gesetzt und sich um das Gemeinwohl in Langen und der Region Rhein-Main und darüber hinaus verdient gemacht“, sagt der Rathauschef.

Edith Erbrich wurde 1937 im Frankfurter Ostend als Tochter eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren und bekam im Alter von zwei Jahren einen Pass mit einem eingestempelten „J“, das sie als Jüdin kennzeichnete. Denn nach den Nürnberger Gesetzen galt sie als deutsch-jüdisches „Mischlingskind“. Fortan wurde sie diskriminiert, das bedeutete, sie durfte nicht in die Schule gehen, Geschäfte „der Deutschen“ betreten und es war ihr verboten, in öffentlichen Bunkern Schutz zu suchen. Im Februar 1945 erfolgte die Aufforderung, sich zur Deportation nach Theresienstadt einzufinden. Am Bahnhof wurde die Familie getrennt, denn der katholischen Mutter verwehrten die Nazis, mit Mann und Töchtern in einen der bereitgestellten Viehwaggons zu steigen und weggebracht zu werden. Bei der Ankunft im Konzentrationslager am 18. Februar 1945 wurden die Mädchen von ihrem Vater getrennt und es folgte eine Zeit der schändlichen Behandlung durch die brutalen KZ-Wärter. In den nächsten Monaten bestimmten übermächtiger Hunger, Enge, Schmutz und Drangsalierung den Lebensalltag der Siebenjährigen. Der „schönste Tag“ ihres Lebens begann für Edith Erbrich in der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1945, als die russische Armee das Lager befreite.

Trotz der Gräuel, die sie erlebt hatte, kehrte sie mit ihrer Familie zurück nach Frankfurt, führte ein „normales“ Schülerleben, wurde Industriekauffrau und heiratete. 1963 zog sie als eine der ersten Bewohnerinnen mit ihrem Mann in den neuen Langener Stadtteil Oberlinden ein. Lange hat sie über die furchtbaren Geschehnisse ihrer Kindheit geschwiegen

Nach Beginn ihres Ruhestands flog sie 1997 für vier Monate nach Australien, um dort Freunde zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr erfuhr sie von einer Freundin, dass es in Frankfurt eine Ausstellung über Kinder im Konzentrationslager Theresienstadt gegeben hatte. Edith Erbrich wurde hellhörig und wandte sich an die Organisatoren der Schau, den Studienkreis Deutscher Widerstand in Frankfurt, um zu erfahren, wo die Ausstellung noch gezeigt wird. Sie kam ins Gespräch mit der damaligen Leiterin und weiteren Mitgliedern, die sie schließlich davon überzeugten, vor Schülern über ihre Erlebnisse zu sprechen.

Seit 2001 berichtet Edith Erbrich in Schulen, Jugendzentren, Jugendbildungseinrichtungen, in Radio- und Fernsehsendern, in Zeitungen und in Kultur- und Bildungsstätten persönlich vor mittlerweile 30.000 – vornehmlich jungen – Menschen von ihrer Geschichte. „Es darf nicht vergessen werden“, sagt sie. Denn als Zeitzeugin des Holocaust war es ihr ein besonderes Anliegen, junge Menschen über die Gräueltaten der Nazis aufzuklären, damit sie sich niemals wiederholen.  Ein Schlüsselmoment für sie war das Jahr 1995, als sie und ihre Schwester Hella nach Theresienstadt reisten. „Ich bin froh, dass ich diese Reise unternommen habe, denn es hat mir sehr geholfen, dass zu tun, was ich heute machen“, schreibt Edith Erbrich in ihrer Biografie. Viele Jahre organisierte sie zudem noch Exkursionen zur Gedenkstätte Theresienstadt, jeweils am 7. und 8. Mai zum Befreiungstag und dort feierte sie mit Jungen und Mädchen ein Fest für das Leben. Für ihren Einsatz gegen das Vergessen, für die Würde des Menschen, für die Demokratie und zum Wohle ihrer Mitmenschen wurde Edith Erbrich 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Auch in Langen hat sie eine Menge in Bewegung gebracht. So machte 2005 die Ausstellung über die Kinder in Theresienstadt auch im Museum der Stadt Langen Station. Daneben gehört Edith Erbrich auch zu den Mitbegründern und Motoren der Langener Stolpersteininitiative. 2014 schrieb der Langener Lokalhistoriker Peter Holle in Zusammenarbeit mit ihr ihre Biografie mit dem Titel „Ich hab das Lachen nicht verlernt“. Bei ihrer Lektüre erleben die Leser aus erster Hand, wie es sich anfühlt, als Kind ausgegrenzt, verschleppt und fast in einem KZ umgebracht zu werden. Trotzdem ist es ein Buch voller Hoffnung, was schon der Titel verrät. In jüngster Zeit war sie mit dem Orchesterprojekt OPUS 45 bundesweit auf Tournee. Das Bläserquintett Opus 45 besteht aus Musikern der Hamburgischen Staatsoper, dem Beethoven Orchester Bonn, der NDR Radio-Philharmonie Hannover und dem BBC Symphony Orchestra Glasgow, die gemeinsam mit renommierten Schauspielern Geschichten, Musik und Lieder aus dem KZ Theresienstadt als Lesung, Performance und Konzert aufführen. Edith Erbrichs Erlebnisse sind ein Teil der Aufführungen.

Mit der Verleihung des diesjährigen Kulturpreises sollen die Verdienste von Edith Erbrich für die Erinnerungskultur und gegen das Vergessen gewürdigt werden. „Ihr Engagement ist besonders mit Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse nicht nur in Deutschland überaus wichtig“, sagt Jan Werner. Die Jury ist der Überzeugung, dass ihr Wirken großen Respekt und Dankbarkeit verdient. Durch die Verleihung des Kulturpreises will die Stadt Langen die vielfältigen Leistungen und Verdienste um das Gemeinwesen anerkennen und öffentlich würdigen, betont der Bürgermeister in seinem Gratulationsschreiben. Die Preisträger sollen mit der Auszeichnung vor allem auch ermutigt werden, ihre Arbeit und ihr Engagement fortzusetzen.

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